Philipp Thaler, Assistenzprofessor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen. (Foto: Universität St. Gallen)
St. Gallen (energate) - Eine aktuelle Studie geht dem Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU in der Energiepolitik nach. Ohne ein gegenseitiges Abkommen sehen die Autoren schwarz für die hiesige Netzstabilität und die Energieziele, wie Mitverfasser Philipp Thaler von der Universität St. Gallen sagt.
energate: Philipp Thaler, gemeinsam mit fünf Mitautoren haben Sie an der Studie "Europeanization of the Swiss Energy System" mitgewirkt. Was ist Ihr Fazit aus dieser Arbeit?
Thaler: Mein Beitrag legte den Fokus auf das politische Element. Die Quintessenz lautet, dass ohne Stromabkommen der Status quo der Beziehungen im Elektrizitätsbereich nicht haltbar ist. Es besteht darüber hinaus die Gefahr, dass die Schweiz auf das Abstellgleis gerät auf dem EU-Strommarkt, was unter anderem Konsequenzen für die Umsetzung der Energiestrategie 2050 mit sich bringt.
energate: Was sind die Gründe für dieses Fazit?
Thaler: Die Schweiz ist regulatorisch nicht in das EU-Stromsystem integriert, physisch aber mit am stärksten. Dieser Widerspruch sorgt für ein riesiges Spannungsfeld: Es wird immer schwieriger, das Netz stabil zu halten angesichts der Stromflüsse aus und zu umliegenden Ländern. Jährlich fliesst ungefähr halb so viel Elektrizität durch die Schweiz, wie das Land selber produziert. Die umliegenden Länder speisen also massiv Strom ein, was den Begriff der Schweiz als Kupferplatte Europas geprägt hat. Es gibt viele grenzüberschreitenden Leitungen, aber kaum Möglichkeiten, den Stromfluss durch diese vorherzusagen und damit effizient zu regeln. Eine Konsequenz ist, dass der Schweizer Übertragungsnetzbetreiber Swissgrid oftmals nur reagieren kann, um die Netzstabilität und damit auch die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das verursacht hohe Kosten und beansprucht sehr viele Netzelemente. Bis jetzt ging alles gut und Blackouts konnten vermieden werden; wenn auch nur mit viel Aufwand und Notfalllösungen. Wir müssen uns leider darauf einstellen, dass es ohne Stromabkommen noch komplexer wird. So zeigt mein Beitrag in der Studie, dass die Schweiz ohne Stromabkommen den Zugang zu EU-Gremien mit wichtigen Koordinierungsfunktionen im Strombereich verlieren dürfte.
energate: Welchen Zusammenhang hat das Abkommen mit der Energiestrategie?
Thaler: Zunächst einmal müssen die Investitionen in Erneuerbare in der Schweiz zunehmen. Mit "business as usual" lassen sich die Ziele der Energiestrategie kaum erreichen. Vor allem der flächendeckende Ausbau der Windenergie schreitet nur langsam fort. Leider hemmt die derzeitige Unsicherheit der Schweiz-EU-Energiebeziehungen die hiesige Attraktivität für Investitionen in Erneuerbare. Zudem könnten die derzeitigen Probleme mit ungeplanten Stromflüssen durch das Schweizer Netz die nötige Netzkapazität für den Ausbau von Erneuerbaren unverfügbar machen. Ein Stromabkommen könnte hier Abhilfe schaffen. Regulatorische Sicherheit würde Investitionskosten in Erneuerbare senken, neue Geschäftsmöglichkeiten für Schweizer Elektrizitätsproduzenten würden entstehen, und die Problematik mit ungeplanten Stromflüssen liesse sich durch neue Koordinationsmöglichkeiten lösen. All dies würde letztlich dazu beitragen, die Ziele der Energiestrategie zu geringeren gesellschaftlichen Kosten zu erreichen.
energate: Das Regierungsprogramm der neuen EU-Kommission sieht einen europäischen Green Deal vor. Ändert diese Zielsetzung etwas an der Ausgangslage für die Schweiz?
Thaler: Die neue Agenda könnte tatsächlich eine Chance für die Schweiz sein. Eigentlich verfolgen sie und die EU ziemlich ähnliche Ziele, so zum Beispiel den Ausbau der Erneuerbaren und CO2-Neutralität bis 2050. Kooperation könnte für beide Seiten eine Möglichkeit bieten, ihre Ziele einfacher zu erreichen. Diese Einsicht könnte auch neue Bewegung in die derzeitige Pattsituation um das Stromabkommen bringen. Die Schweiz hat durchaus einiges zu bieten. Vor allem Flexibilität wird in einem modernen und nachhaltigen Energiesystem sehr stark benötigt. Die Schweiz könnte diese Flexibilität als Stromtransitland und auch dank der Wasserkraft liefern. Dadurch kann sie dazu beitragen, die Dekarbonisierung Europas voranzutreiben.
energate: Gibt es für die Akteure in der Schweiz eine Alternative zum Abkommen?
Thaler: Dies ist die grosse Unbekannte. Privatrechtliche Kooperationsformen zwischen Akteuren im Strombereich aus der Schweiz und der EU konnten in der Vergangenheit teilweise Abhilfe schaffen. Es ist jedoch unklar, wie nachhaltig diese Option ist. Weiterhin könnte der Vollzug des Brexits dafür sorgen, dass die EU ihre Herangehensweise an die Zusammenarbeit mit Drittstaaten ändert und weniger prinzipientreu agiert. Allerdings hat sie bereits mehrfach klar gemacht, dass sie kein Rosinenpicken akzeptieren wird. Das Thema bleibt daher sicherlich politisch.
energate: Sie wiesen auf die Rolle der Schweiz als Kupferplatte Europas hin. Kann sie diesen Aspekt nicht als Verhandlungsgrundlage einbringen?
Thaler: Eine gewisse Verhandlungsposition ergibt sich durch die Lage Italiens. Ohne Einbezug der Schweiz lässt sich das Land nicht vollends in den EU-Strommarkt integrieren. Die Schweiz als Partner Italiens kann also durchaus von Bedeutung sein bei Verhandlungen. Wichtig erscheint uns jedoch vor allem die Klärung der Frage, was die Schweiz zur europäischen Energiewende beitragen kann. Belastbare Zahlen könnten hier Verhandlungsmasse schaffen. Daran wollen wir mit anderen Wissenschaftlern in Zukunft forschen.
Die Fragen stellte Yves Ballinari, freier Mitarbeiter.
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