Interview
Elcom-Analystin: "Die russischen Gasströme sind der Schlüssel"
von

Im Interview mit energate nimmt Chantal Cavazzana, Fachspezialistin Marktüberwachung bei der Elcom, detailliert zur Preisentwicklung am Strom-, Gas- und CO2-Markt Stellung. (Foto: Anthia Cumming/iStock)
Bern (energate) - Die Preise für Strom, Gas und CO2 gingen zuletzt nur nach oben. Im Interview mit energate äussert sich Chantal Cavazzana, Fachspezialistin Marktüberwachung bei der Elcom, zu den Hintergründen. Dabei geht es unter anderem um eine Dürre in Brasilien, aber natürlich auch um Gazprom und Nord Stream 2. Hier gelangen Sie zu einer kürzeren Version des Interviews. Diese hat energate bereits am Freitag, 1. Oktober, publiziert.
energate: Frau Cavazzana, am Spot- und Terminmarkt gehen die Preise derzeit durch die Decke. Was sind die wesentlichen Treiber für diese Entwicklung?
Cavazzana: Haupttreiber der Strompreise sind derzeit die Gas-, Kohle- und CO2-Preise, welche momentan auf einem sehr hohen Niveau sind. Die tiefen Lagerbestände im Gas und die damit verbundenen Versorgungssorgen liessen die Gaspreise stark ansteigen. Diese derzeit hohen Gaspreise haben die Wettbewerbsfähigkeit von Kohle im europäischen Brennstoffmix verbessert und damit die Nachfrage nach Kohle erhöht, was wiederum den Kohlepreis nach oben getrieben hat. Zudem hat in den letzten Monaten das robuste Wachstum des Kohleverbrauchs in China das schleppende Wachstum der chinesischen Kohleproduktion überholt, was zu extrem hohen Preisen am chinesischen Markt für Inlandskohle geführt hat. In diesem Zusammenhang hat das Einfuhrverbot für australische Kohle seitens China die Nachfrage nach Kohle aus anderen Ländern verstärkt. Auch der CO2-Preis ist seit Jahresbeginn stark gestiegen. Dabei sind gerade der "Green Deal" und das "Fit for 55"-Paket wichtige Treiber im CO2-Markt.
energate: Bei den hohen Gaspreisen haben Sie von tiefen Lagerbeständen und Versorgungssorgen gesprochen. Können Sie das näher ausführen?
Cavazzana: Gerne. Die Gasmärkte in Europa, Asien und den USA sind durch den LNG-Handel (LNG = Liquefied Natural Gas/Flüssiggas) miteinander verbunden, sodass Preisbewegungen in einer Region die LNG-Lieferungen umlenken können. Die Flüssiggas-Exporte aus den USA waren aufgrund der Hurrikane im letzten Winter stark eingeschränkt. Wegen der bereits im letzten Jahr steigenden Nachfrage in Asien (China hat die globale Pandemie schneller überwunden) und wegen des kalten Wetters im Dezember und Januar in Nordostasien und der späteren Hitzewelle und somit erhöhtem Gasbedarf für Heizung und Kühlung wurde bereits und wird weiterhin vermehrt LNG nach Asien geliefert. Ausserdem sorgt zurzeit die schlimmste Dürre seit einem Jahrzehnt in Brasilien für ein LNG-Defizit in Europa, da Brasilien auf LNG zurückgreift, um Strom zu produzieren, der normalerweise von Wasserkraftwerken erzeugt wird.
Auch in Europa war in diesem Jahr der Winter eher kalt, und die Erzeugung aus erneuerbaren Energien eher unter Norm, was zu einer stärkeren Gasnachfrage in Europa geführt hat und die Gaslagerbestände weiter gesenkt hat. Durch den kalten März, April und Mai in Europa war es kaum möglich, die Gasvorräte aufzustocken. Zudem fanden im Sommer dieses Jahres intensive Wartungsarbeiten an Gasleitungen in Norwegen statt, da einige Wartungsarbeiten wegen Corona von 2020 auf 2021 verschoben worden waren. Dies alles erklärt, warum die europäischen Gas-Bestände derzeit sehr niedrig sind.
Um Europa für Gaslieferungen attraktiver zu machen, musste der europäische Gaspreis steigen. Dadurch wurde eine Menge flexibler Produktion aus Norwegen und zusätzliches Gas aus Algerien freigesetzt. Russland scheint nicht gewillt zu sein, die über die Ukraine angebotene Kapazität zu nutzen, um die Gasflüsse nach Europa zu erhöhen. Die Transitgebühren, welche die Ukraine verrechnet, machen es scheinbar derzeit für Gazprom nicht lukrativ, zusätzliche Volumen über die ukrainischen Pipelines zu pumpen und die Speicher mehr zu füllen. Die Backwardation der Gaspreise liefert für das jetzige Einspeichern von Gas wenig Anreize. Da Gazprom zurzeit alle vertraglichen Lieferverpflichtungen gegenüber der EU und den Verbrauchern erfülle, sei dies seitens Gazprom derzeit auch nicht notwendig.
Obwohl sich die europäischen Gas-Preise in diesem Jahr mehr als verdreifacht haben, liegen sie noch immer unter den Preisen für Flüssiggas, das nach Asien, der grössten Importregion, geliefert wird. Da LNG weiterhin vor allem nach Asien umgeleitet wird, ist Russland zurzeit die einzige flexible Quelle für eine Erhöhung der Gaslieferungen nach Europa. Nord Stream 2 würde dazu beitragen, die russischen Gasströme zu erhöhen und den Markt zu beruhigen. Aus diesem Grund können wir von diesem Winter bis in den Sommer 2022 hinein am Markt eine so steile Backwardation (langfristige Terminkontrakte sind tiefer bepreist als kurzfristige Kontrakte) beobachten, weil der Grossteil des Marktes davon ausgeht, dass die russischen Gasströme bis dann freigegeben werden. Die russischen Gasströme sind der Schlüssel dafür, wann wir beim europäischen Gaspreis eine Entspannung sehen werden. Deshalb reagiert der Markt zurzeit auch sehr stark auf jegliche Information diesbezüglich.
Ab wann über Nord Stream 2 Gas von Russland nach Europa fliessen kann, hängt aber davon ab, wann die Bundesnetzagentur (BNetzA) die notwendige Lizenz zum Betrieb der Pipeline Nord Stream 2 erteilt. Dies kann den letzten Berichten zufolge bis zu sechs Monate dauern. Die Pipeline selbst ist nach Angaben von Gazprom seit 9. September fertiggestellt. Rechtliche und regulatorische Fragen sind aber noch zu klären. Die EU-Regeln schreiben eine Entflechtung von Erdgasproduzenten und Pipelinebetreibern vor. Die Nord Stream 2 AG ist derzeit noch eine 100-prozentige Gazprom-Tochter. Somit sind zwar Gazprom und Nord Stream 2 der Schlüssel für tiefere Gaspreise in Europa, aber es gibt verschiedene plausible Gründe, wieso bei den Grosshandelsmärkten die Preise in die Höhe geschossen sind.
energate: Was bedeutet das alles zusammen für die europäische Energiewende? Welche Kraftwerkstypen sind konkurrenzfähiger geworden? Welche wurden aus dem Markt gedrängt?
Cavazzana: Die ausserordentliche Lage bei den europäischen Gasspeichern hat dazu geführt, dass die Gaspreise so stark angestiegen sind, dass die Stromproduktion mit Gaskraftwerken zurzeit nicht wirtschaftlich ist. Das wenige vorhandene Gas kann somit für die Aufrechterhaltung der Gasversorgung in anderen Bereichen eingesetzt werden. Derzeit findet trotz der ebenfalls rekordhohen CO2-Preise eine Verlagerung zur kohlebefeuerten Stromerzeugung, also weg vom Gas, statt. Diese Verlagerung war nur möglich, weil der Preisanstieg beim Gas relativ zum Preisanstieg von Kohle und CO2 noch viel stärker ausgefallen ist, weswegen nun Kohlekraftwerke trotz ihrer höheren CO2-Emissionen wirtschaftlicher Strom erzeugen können als Gaskraftwerke.
Sobald aber die Gasspeicherproblematik gelöst ist, wovon der Markt langfristig ausgeht, sollten die Gaspreise wieder sinken, und die Umkehrung der Umstellung von Kohle auf Gas bei der Stromerzeugung wieder stattfinden. Dann wird Gas wieder in erheblichem Umfang zur europäischen Stromerzeugung beitragen, zumindest in der Übergangsphase, bis der Ausbau der erneuerbaren Energien weit genug fortgeschritten ist. Dies kommt dann auch wieder der Umwelt zugute, da Gaskraftwerke tendenziell weniger CO2 ausstossen als Kohlekraftwerke. Im Zuge dieser aktuellen Entwicklungen sind aber nicht nur Kohlekraftwerke konkurrenzfähiger geworden, auch Speicher- und Pumpspeicherkraftwerke kommen dadurch vermehrt zum Einsatz.
Sehr hohe Strompreise stellen die Energiewende sicherlich vor eine Herausforderung, denn künftig soll ja überall "sauberer" Strom eingesetzt werden. Bei der Energiewende müssen Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit vereint werden. Dies ist aber nicht immer einfach möglich. Wir hatten dieses Jahr diesbezüglich auch schon Anfragen von der spanischen Botschaft in Bern. Die derzeit hohen Gas- und Strompreise sind bereits in einigen EU-Ländern ein wichtiges politisches Thema.
Aber auch die Strompreise zeigen zurzeit eine Backwardation und der Markt geht derzeit davon aus, dass Strom ab 2023 billiger wird. Zwar sind am Grosshandelsmarkt Stromlieferungen für das vierte Quartal 2021 und das Kalenderjahr 2022 mit 192 Euro/MWh respektive 123 Euro/MWh (Stand 28. September) hoch bepreist, aber Stromlieferungen für das Lieferjahr 2023 und 2024 handeln schon deutlich tiefer bei 86 Euro/MWh respektive 75 Euro/MWh (Stand 28.September).
energate: Die Schweiz ist ja nicht Europa: Inwiefern wirken sich die Preise auf die Schweiz und insbesondere die hiesigen Energieversorger aus?
Cavazzana: Aufgrund ihres Kraftwerkparks und ihre hohen Strom-Grenzflüsse ist die Schweiz "Pricetakerin" der Grosshandelspreise der Nachbarstaaten. Gerade aus diesem Grund muss sich auch die Schweiz mit dem Dreieck Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit auseinandersetzen.
Wenn man über die Auswirkung der Strom-, Gas- und CO2-Preise auf Gas- und Stromversorgungsunternehmen spricht, sind drei Sparten zu unterscheiden: Vertrieb, Produktion und Handel. Die derzeitigen Spotpreise für das Lieferjahr 2021 sind sowohl am Strom- wie am Gasmarkt deutlich höher, als der Terminmarkt vorausgesagt hat. Für den Vertrieb heisst dies, dass, falls sie für ihre Kunden im Voraus am Terminmarkt zu viel Energie eingekauft haben, sie diese Energie nun zu deutlich höheren Preisen verkaufen können. Haben sie bei der Beschaffungsstrategie hingegen - um auf kurzfristige Nachfrageschwankungen besser reagieren zu können - einen grösseren Teil der Beschaffungsmenge auf den Spotmarkt ausgelegt, müssen sie nun zu deutlich höheren Preisen einkaufen, als sie im Terminmarkt bezahlt hätten. Einige Gasversorgungsunternehmen in der Schweiz erhöhen bereits ihre Preise ab 1. Oktober.
Bei der Sparte Produktion sind die hohen Strompreise vor allem für Schweizer Wasserkraftwerksbetreiber interessant. Sie können nun zu deutlich höheren Preisen ihre Kraftwerke sowohl am Spot- wie am Terminmarkt verkaufen. Für den Handel sind Zeiten mit hoher Volatilität auch immer sehr interessant, denn daraus ergeben sich immer Handelsopportunitäten.
energate: Zu guter Letzt ein Blick in die Glaskugel: Wird - und wenn ja, für wie lange - der Höhenflug der (Strom-)Preise noch andauern?
Cavazzana: Wenn man sich die aktuelle Strompreiskurve anschaut, dann sind die sehr hohen Strompreise, wie wir sie zurzeit für das vierte Quartal 2021 (193 Euro/MWh Stand 28. September) und das Lieferjahr 2022 (123 Euro/MWh Stand 28. September) sehen, nicht von Dauer. Für das vierte Quartal 2022 und die Lieferjahre 2023 und 2024 erwartet der Markt derzeit deutlich tiefere Strompreise, weil auch am Gas- und am Kohlemarkt tiefere Preise erwartet werden.
Es muss aber gesagt werden, dass die Lage am Gasmarkt weiterhin sehr angespannt und nervös ist. Sollte es zu einem sehr kalten Herbst und Winter kommen, und die Gaslagerbestände weiterhin auf sehr tiefem Niveau bleiben, dann können die Gaspreise kurzfristig durchaus noch weiter steigen und versuchen, die asiatischen Preise zu überbieten, um die auf dem Spotmarkt verfügbaren LNG Cargos doch nach Europa umzuleiten. Dies könnte die Strompreise am kurzen Ende der Kurve noch weiter in die Höhe treiben.
Jegliche Entspannung auf dem Gas-, Kohle- oder CO2-Markt kann die Strompreise aber auch wieder entlasten. Bei der Elcom schauen wir mit unseren wöchentlichen Termin- und Spotmarktberichte auf die Preisentwicklungen zurück und beschreiben, was der Markt aktuell für Strompreise in die Zukunft erwartet. Prognosen zu machen, wohin der Markt sich entwickeln wird, liegt nicht in unsere Kompetenz.
Die Fragen stellte Mario Graf, energate-Redaktion.
energate: Frau Cavazzana, am Spot- und Terminmarkt gehen die Preise derzeit durch die Decke. Was sind die wesentlichen Treiber für diese Entwicklung?
Cavazzana: Haupttreiber der Strompreise sind derzeit die Gas-, Kohle- und CO2-Preise, welche momentan auf einem sehr hohen Niveau sind. Die tiefen Lagerbestände im Gas und die damit verbundenen Versorgungssorgen liessen die Gaspreise stark ansteigen. Diese derzeit hohen Gaspreise haben die Wettbewerbsfähigkeit von Kohle im europäischen Brennstoffmix verbessert und damit die Nachfrage nach Kohle erhöht, was wiederum den Kohlepreis nach oben getrieben hat. Zudem hat in den letzten Monaten das robuste Wachstum des Kohleverbrauchs in China das schleppende Wachstum der chinesischen Kohleproduktion überholt, was zu extrem hohen Preisen am chinesischen Markt für Inlandskohle geführt hat. In diesem Zusammenhang hat das Einfuhrverbot für australische Kohle seitens China die Nachfrage nach Kohle aus anderen Ländern verstärkt. Auch der CO2-Preis ist seit Jahresbeginn stark gestiegen. Dabei sind gerade der "Green Deal" und das "Fit for 55"-Paket wichtige Treiber im CO2-Markt.
energate: Bei den hohen Gaspreisen haben Sie von tiefen Lagerbeständen und Versorgungssorgen gesprochen. Können Sie das näher ausführen?
Cavazzana: Gerne. Die Gasmärkte in Europa, Asien und den USA sind durch den LNG-Handel (LNG = Liquefied Natural Gas/Flüssiggas) miteinander verbunden, sodass Preisbewegungen in einer Region die LNG-Lieferungen umlenken können. Die Flüssiggas-Exporte aus den USA waren aufgrund der Hurrikane im letzten Winter stark eingeschränkt. Wegen der bereits im letzten Jahr steigenden Nachfrage in Asien (China hat die globale Pandemie schneller überwunden) und wegen des kalten Wetters im Dezember und Januar in Nordostasien und der späteren Hitzewelle und somit erhöhtem Gasbedarf für Heizung und Kühlung wurde bereits und wird weiterhin vermehrt LNG nach Asien geliefert. Ausserdem sorgt zurzeit die schlimmste Dürre seit einem Jahrzehnt in Brasilien für ein LNG-Defizit in Europa, da Brasilien auf LNG zurückgreift, um Strom zu produzieren, der normalerweise von Wasserkraftwerken erzeugt wird.
Auch in Europa war in diesem Jahr der Winter eher kalt, und die Erzeugung aus erneuerbaren Energien eher unter Norm, was zu einer stärkeren Gasnachfrage in Europa geführt hat und die Gaslagerbestände weiter gesenkt hat. Durch den kalten März, April und Mai in Europa war es kaum möglich, die Gasvorräte aufzustocken. Zudem fanden im Sommer dieses Jahres intensive Wartungsarbeiten an Gasleitungen in Norwegen statt, da einige Wartungsarbeiten wegen Corona von 2020 auf 2021 verschoben worden waren. Dies alles erklärt, warum die europäischen Gas-Bestände derzeit sehr niedrig sind.
Um Europa für Gaslieferungen attraktiver zu machen, musste der europäische Gaspreis steigen. Dadurch wurde eine Menge flexibler Produktion aus Norwegen und zusätzliches Gas aus Algerien freigesetzt. Russland scheint nicht gewillt zu sein, die über die Ukraine angebotene Kapazität zu nutzen, um die Gasflüsse nach Europa zu erhöhen. Die Transitgebühren, welche die Ukraine verrechnet, machen es scheinbar derzeit für Gazprom nicht lukrativ, zusätzliche Volumen über die ukrainischen Pipelines zu pumpen und die Speicher mehr zu füllen. Die Backwardation der Gaspreise liefert für das jetzige Einspeichern von Gas wenig Anreize. Da Gazprom zurzeit alle vertraglichen Lieferverpflichtungen gegenüber der EU und den Verbrauchern erfülle, sei dies seitens Gazprom derzeit auch nicht notwendig.
Obwohl sich die europäischen Gas-Preise in diesem Jahr mehr als verdreifacht haben, liegen sie noch immer unter den Preisen für Flüssiggas, das nach Asien, der grössten Importregion, geliefert wird. Da LNG weiterhin vor allem nach Asien umgeleitet wird, ist Russland zurzeit die einzige flexible Quelle für eine Erhöhung der Gaslieferungen nach Europa. Nord Stream 2 würde dazu beitragen, die russischen Gasströme zu erhöhen und den Markt zu beruhigen. Aus diesem Grund können wir von diesem Winter bis in den Sommer 2022 hinein am Markt eine so steile Backwardation (langfristige Terminkontrakte sind tiefer bepreist als kurzfristige Kontrakte) beobachten, weil der Grossteil des Marktes davon ausgeht, dass die russischen Gasströme bis dann freigegeben werden. Die russischen Gasströme sind der Schlüssel dafür, wann wir beim europäischen Gaspreis eine Entspannung sehen werden. Deshalb reagiert der Markt zurzeit auch sehr stark auf jegliche Information diesbezüglich.
Ab wann über Nord Stream 2 Gas von Russland nach Europa fliessen kann, hängt aber davon ab, wann die Bundesnetzagentur (BNetzA) die notwendige Lizenz zum Betrieb der Pipeline Nord Stream 2 erteilt. Dies kann den letzten Berichten zufolge bis zu sechs Monate dauern. Die Pipeline selbst ist nach Angaben von Gazprom seit 9. September fertiggestellt. Rechtliche und regulatorische Fragen sind aber noch zu klären. Die EU-Regeln schreiben eine Entflechtung von Erdgasproduzenten und Pipelinebetreibern vor. Die Nord Stream 2 AG ist derzeit noch eine 100-prozentige Gazprom-Tochter. Somit sind zwar Gazprom und Nord Stream 2 der Schlüssel für tiefere Gaspreise in Europa, aber es gibt verschiedene plausible Gründe, wieso bei den Grosshandelsmärkten die Preise in die Höhe geschossen sind.
energate: Was bedeutet das alles zusammen für die europäische Energiewende? Welche Kraftwerkstypen sind konkurrenzfähiger geworden? Welche wurden aus dem Markt gedrängt?
Cavazzana: Die ausserordentliche Lage bei den europäischen Gasspeichern hat dazu geführt, dass die Gaspreise so stark angestiegen sind, dass die Stromproduktion mit Gaskraftwerken zurzeit nicht wirtschaftlich ist. Das wenige vorhandene Gas kann somit für die Aufrechterhaltung der Gasversorgung in anderen Bereichen eingesetzt werden. Derzeit findet trotz der ebenfalls rekordhohen CO2-Preise eine Verlagerung zur kohlebefeuerten Stromerzeugung, also weg vom Gas, statt. Diese Verlagerung war nur möglich, weil der Preisanstieg beim Gas relativ zum Preisanstieg von Kohle und CO2 noch viel stärker ausgefallen ist, weswegen nun Kohlekraftwerke trotz ihrer höheren CO2-Emissionen wirtschaftlicher Strom erzeugen können als Gaskraftwerke.
Sobald aber die Gasspeicherproblematik gelöst ist, wovon der Markt langfristig ausgeht, sollten die Gaspreise wieder sinken, und die Umkehrung der Umstellung von Kohle auf Gas bei der Stromerzeugung wieder stattfinden. Dann wird Gas wieder in erheblichem Umfang zur europäischen Stromerzeugung beitragen, zumindest in der Übergangsphase, bis der Ausbau der erneuerbaren Energien weit genug fortgeschritten ist. Dies kommt dann auch wieder der Umwelt zugute, da Gaskraftwerke tendenziell weniger CO2 ausstossen als Kohlekraftwerke. Im Zuge dieser aktuellen Entwicklungen sind aber nicht nur Kohlekraftwerke konkurrenzfähiger geworden, auch Speicher- und Pumpspeicherkraftwerke kommen dadurch vermehrt zum Einsatz.
Sehr hohe Strompreise stellen die Energiewende sicherlich vor eine Herausforderung, denn künftig soll ja überall "sauberer" Strom eingesetzt werden. Bei der Energiewende müssen Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit vereint werden. Dies ist aber nicht immer einfach möglich. Wir hatten dieses Jahr diesbezüglich auch schon Anfragen von der spanischen Botschaft in Bern. Die derzeit hohen Gas- und Strompreise sind bereits in einigen EU-Ländern ein wichtiges politisches Thema.
Aber auch die Strompreise zeigen zurzeit eine Backwardation und der Markt geht derzeit davon aus, dass Strom ab 2023 billiger wird. Zwar sind am Grosshandelsmarkt Stromlieferungen für das vierte Quartal 2021 und das Kalenderjahr 2022 mit 192 Euro/MWh respektive 123 Euro/MWh (Stand 28. September) hoch bepreist, aber Stromlieferungen für das Lieferjahr 2023 und 2024 handeln schon deutlich tiefer bei 86 Euro/MWh respektive 75 Euro/MWh (Stand 28.September).
energate: Die Schweiz ist ja nicht Europa: Inwiefern wirken sich die Preise auf die Schweiz und insbesondere die hiesigen Energieversorger aus?
Cavazzana: Aufgrund ihres Kraftwerkparks und ihre hohen Strom-Grenzflüsse ist die Schweiz "Pricetakerin" der Grosshandelspreise der Nachbarstaaten. Gerade aus diesem Grund muss sich auch die Schweiz mit dem Dreieck Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit auseinandersetzen.
Wenn man über die Auswirkung der Strom-, Gas- und CO2-Preise auf Gas- und Stromversorgungsunternehmen spricht, sind drei Sparten zu unterscheiden: Vertrieb, Produktion und Handel. Die derzeitigen Spotpreise für das Lieferjahr 2021 sind sowohl am Strom- wie am Gasmarkt deutlich höher, als der Terminmarkt vorausgesagt hat. Für den Vertrieb heisst dies, dass, falls sie für ihre Kunden im Voraus am Terminmarkt zu viel Energie eingekauft haben, sie diese Energie nun zu deutlich höheren Preisen verkaufen können. Haben sie bei der Beschaffungsstrategie hingegen - um auf kurzfristige Nachfrageschwankungen besser reagieren zu können - einen grösseren Teil der Beschaffungsmenge auf den Spotmarkt ausgelegt, müssen sie nun zu deutlich höheren Preisen einkaufen, als sie im Terminmarkt bezahlt hätten. Einige Gasversorgungsunternehmen in der Schweiz erhöhen bereits ihre Preise ab 1. Oktober.
Bei der Sparte Produktion sind die hohen Strompreise vor allem für Schweizer Wasserkraftwerksbetreiber interessant. Sie können nun zu deutlich höheren Preisen ihre Kraftwerke sowohl am Spot- wie am Terminmarkt verkaufen. Für den Handel sind Zeiten mit hoher Volatilität auch immer sehr interessant, denn daraus ergeben sich immer Handelsopportunitäten.
energate: Zu guter Letzt ein Blick in die Glaskugel: Wird - und wenn ja, für wie lange - der Höhenflug der (Strom-)Preise noch andauern?
Cavazzana: Wenn man sich die aktuelle Strompreiskurve anschaut, dann sind die sehr hohen Strompreise, wie wir sie zurzeit für das vierte Quartal 2021 (193 Euro/MWh Stand 28. September) und das Lieferjahr 2022 (123 Euro/MWh Stand 28. September) sehen, nicht von Dauer. Für das vierte Quartal 2022 und die Lieferjahre 2023 und 2024 erwartet der Markt derzeit deutlich tiefere Strompreise, weil auch am Gas- und am Kohlemarkt tiefere Preise erwartet werden.
Es muss aber gesagt werden, dass die Lage am Gasmarkt weiterhin sehr angespannt und nervös ist. Sollte es zu einem sehr kalten Herbst und Winter kommen, und die Gaslagerbestände weiterhin auf sehr tiefem Niveau bleiben, dann können die Gaspreise kurzfristig durchaus noch weiter steigen und versuchen, die asiatischen Preise zu überbieten, um die auf dem Spotmarkt verfügbaren LNG Cargos doch nach Europa umzuleiten. Dies könnte die Strompreise am kurzen Ende der Kurve noch weiter in die Höhe treiben.
Jegliche Entspannung auf dem Gas-, Kohle- oder CO2-Markt kann die Strompreise aber auch wieder entlasten. Bei der Elcom schauen wir mit unseren wöchentlichen Termin- und Spotmarktberichte auf die Preisentwicklungen zurück und beschreiben, was der Markt aktuell für Strompreise in die Zukunft erwartet. Prognosen zu machen, wohin der Markt sich entwickeln wird, liegt nicht in unsere Kompetenz.
Die Fragen stellte Mario Graf, energate-Redaktion.
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