Berlin (energate) - Die hohen Energiepreise haben zu Verwerfungen auf dem Energiemarkt geführt. Aus Sicht von Marion Nöldgen, Geschäftsführerin von Tibber, wäre die Situation mit dynamischen Tarifen nicht derart eskaliert. Ihr Unternehmen verkauft Strom zum jeweils gültigen Einkaufspreis plus einer Monatsgebühr von 3,99 Euro. Grundversorgertarife von bis zu 1 Euro/kWh kritisiert Nöldgen im Interview scharf.
energate: Frau Nöldgen, wie bewerten Sie die aktuelle Situation im Energiemarkt?
Nöldgen: Wenn Anbieter in dieser extremen Situation nicht mehr zahlungsunfähig sind, dann ist ihnen das zunächst nicht anzukreiden. Was ich aber scharf kritisieren muss, sind strategische Kündigungen, um als Nutzniesser aus der Situation zu gehen. Ausserdem meine ich, dass abgespaltene Grundversorgertarife von bis zu 1 Euro/kWh absolut nicht gerechtfertigt sind. Mir fehlt an der Stelle auch die Transparenz. Bei Tibber sehen unsere Kunden transparent in der App, zu welchem Preis wir einkaufen, denn wir geben den gehandelten Strom zum Börsenpreis inklusive Steuern und Abgaben direkt weiter. Unser Strompreis für Berlin lag in KW 2 durchschnittlich - mit Gebühren - bei 44 Cent/kWh. Da kann ich schwer nachvollziehen, mit welcher Begründung manche Grundversorger hier noch mehr als 50 Cent/kWh aufschlagen. Die angespannte Lage hat vor allem Stromio verursacht, denn das waren sehr viele Kunden auf einmal, und auf der anderen Seite das momentan fehlende Angebot.
energate: Gemäss Ihres Geschäftsmodells haben Sie die höheren Börsenstrompreise an Ihre Kunden weitergegeben. Haben Sie in dieser Krise eher Kunden dazugewonnen oder aber verloren?
Nöldgen: Weil wir früher in der Prozesskette ansetzen als andere Stromanbieter, hatten wir auch die Preissteigerung deutlich früher. Ende August, spätestens Anfang September war klar, dass die Preise steigen würden. Erst im Oktober zogen dann einige Mitbewerber nach. Da hatten wir den ganz grossen Run auf unseren Kundendienst wegen Preisen von 70 Cent/kWh bereits hinter uns. Inzwischen sind wir schon wieder in der Downtrend-Phase. Im Anschluss haben wir viele positive Rückmeldungen von Kunden bekommen, weil wir einer der wenigen Anbieter sind, die noch neue Kunden zu angemessenen Preisen aufnehmen. Landesspezifische Kundenzahlen kommunizieren wir nicht, unser Kundenstamm ist aber global auf über 200.000 gewachsen.
energate: Nicht nur die Einkaufspreise sind gestiegen, es werden auch grössere Sicherheiten verlangt, die Börsenteilnehmer hinterlegen müssen. Wie hat Tibber das gestemmt?
Nöldgen: Ja, man muss teurer einkaufen und gleichzeitig die Sicherheiten erhöhen - was auf den Cashflow geht. Da kommen fast alle Pleiten von Energieanbietern her, die wir zuletzt gesehen haben. Ich möchte nichts beschönigen, für uns war es auch viel Arbeit. Allerdings kamen einige Punkte zusammen, die uns geholfen haben. Beispiel Fundraising: Das machen wir ohnehin mindestens einmal im Jahr. Das heisst, es ist für uns nichts Ungewöhnliches. Hinzu kommt, dass wir ausser in Deutschland auch in Schweden und Norwegen sammeln. In den skandinavischen Ländern sind die Preise zwar auch gestiegen, aber dort sind wir stark gewachsen. Das finden wiederum Investoren und dann auch die Banken super. Wir haben also von einem Boom in Skandinavien und bereits bestehenden Investorenbeziehungen profitiert. Für ein Stadtwerk ist das natürlich eine ganz andere Nummer.
energate: Glauben Sie, dass sich der rückläufige Preistrend bei Tibber fortsetzen wird?
Nöldgen: Nach allem, was wir sehen, ja. Natürlich hängt das auch stark vom Wetter ab. Aber viele Vorhersagen, die wir kennen, gehen davon aus, dass in Q1 der Zenit der Krise überschritten sein wird.
energate: Was könnte solchen Krisen künftig verhindern oder abmildern?
Nöldgen: Dynamische Tarife und die dafür nötigen Smart Meter. In Schweden und Norwegen sind dynamische Tarife samt Smart Metern viel verbreiteter als hierzulande. Dort gab es bei Weitem nicht so viele Pleiten und das Angebot an Tarifen, die akzeptabel sind, ist noch immer gross. Hat ein Versorger dagegen viele Kunden in Fixpreistarifen und muss teurer einkaufen, ist das in der jetzigen Situation nicht wirtschaftlich. Daher rühren die Kündigungswellen und Pleiten.
energate: Was ist der Vorteil von dynamischen Tarifen?
Nöldgen: Das Risiko von Neukunden besteht ja darin, dass sie - je nachdem welchen Tarif sie abschliessen - damit ein Unternehmen aktuell unter Druck setzen können. Ein Tarif, der sich am Börsenstrompreis orientiert, mindert dagegen das Risiko auf Unternehmensseite. Zusätzlich wird durch das transparente Verfahren den Kunden die Möglichkeit gegeben, zu reagieren. Sie können anhand der Preise entscheiden, ob sie zum Beispiel ihr E-Auto lieber jetzt oder später laden. Und dann könnte auch kein Grundversorger 1 Euro/kWh mehr verlangen, weil jeder Kunde den Einkaufspreis sehen kann. Ich glaube, mit mehr dynamischen Tarifen hätten wir in Deutschland weniger Kündigungen gehabt und die Situation wäre insgesamt entspannter. Immerhin müssen Stromlieferanten mit mehr als 200.000 Kunden inzwischen laut EnWG auch einen dynamischen Tarif anbieten.
energate: Was halten Sie von den Ankündigungen der Regierung, die Energiepreiskrise einzudämmen, unter anderem mit der früheren Abschaffung der EEG-Umlage?
Nöldgen: Den rasant steigenden Energiepreisen politische Massnahmen zum Schutz der Verbraucher entgegenzusetzen, ist natürlich zu begrüssen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob Preissenkungen zeitnah bei den Verbrauchern ankommen, selbst wenn schon im Sommer die EEG-Umlage ganz fallen sollte. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass viele Stromanbieter solche Ersparnisse oft nicht oder zumindest nur stark verzögert weitergeben. Auch langfristig ist die Politik gefangen zwischen zwei verschiedenen Zielsetzungen: Einerseits soll Energie aus fossilen Energieträgern durch steigende CO2-Preise teurer werden, andererseits sollen die Energiepreise nicht unkontrolliert steigen. Der einzige Weg, wie das nachhaltig gelingen kann, sind mehr Erneuerbare im Strommix, zusammen mit einer digitalisierten Infrastruktur, um die daraus resultierenden Schwankungen im Stromangebot auf Verbraucherseite besser aufzufangen.
Das Interview führte Daniel Zugehör.