Brugg (energate) - Das Schweizer Start-up Aliunid entwickelt gemeinsam mit Elektrizitätswerken Lösungen für die Erfassung, Analyse und Steuerung von Energieflüssen. Im Interview spricht CEO David Thiel über die Notwendigkeit von Echtzeit-Daten und die Herausforderung, Energieversorger davon zu überzeugen.
energate: David Thiel, gemeinsam mit dem Verein für umweltgerechte Energie (VUE) hat Aliunid Feldtests für die Erhebung von Echtzeit-Daten zum Stromfluss lanciert (
energate berichtete). Mit welchem Hintergrund?
Thiel: Wir ersetzen die bisherigen Herkunftsnachweise, die einmal pro Jahr ausgewiesen worden sind, durch Herkunftsnachweise im Sekundentakt. Indem der Endkunde erfährt, wie viel Energie er gerade produziert und verbraucht, schaffen wir eine Transparenz, die sehr nahe der physikalischen Realität ist. Diese Transparenz soll im Rahmen des Feldtests in der ganzen Schweiz ermöglicht werden und ist die Basis eines neues Zertifizierungssystems. Damit legen wir die Grundlage für Echtzeit-Stromprodukte.
energate: Welchen Vorteil bieten Echtzeit-Daten?
Thiel: Sie sind die Grundlage für eine sichere und erneuerbare Stromversorgung in der Schweiz. Es fängt damit an, dass der Endkunde die Effizienz seines Stromverbrauchs sofort erkennt und verbessern kann, bevor drei Monate später eine hohe Stromrechnung ins Haus flattert. Die Herkunft des Stroms, also der Echtzeit-Strommix und CO2-Fussabdruck zu Hause, ist der Prüfstein einer erfolgreichen Energiewende. Wenn wir erneuerbaren Strom produzieren können, wenn wir ihn wirklich brauchen, dann ist die Energiestrategie 2050 erfolgreich umgesetzt. Echtzeit-Daten zeigen schonungslos auf, wo wir heute stehen. Das braucht es, damit wir uns in die richtige Richtung bewegen und die nötigen Kompetenzen für eine neue Energieversorgung aufbauen können.
energate: Wie soll die neue Energieversorgung genau aussehen?
Thiel: Setzen wir die Energiestrategie wie vorgesehen um, wird jedes zweite Haus in der Schweiz über eine PV-Anlage verfügen. In der klassischen Energieversorgung geschieht die Netzsteuerung von oben nach unten, mit Swissgrid in einer dominanten Rolle. Die künftige Energieversorgung dagegen funktioniert von unten nach oben: Ein Energieversorger muss mit einem grossen Anteil an stochastischer bzw. schwankender Stromproduktion umgehen können, die wetterabhängig lokal stattfindet. Gleichzeitig muss die Versorgung durch externe Kraftwerke weiter sichergestellt sein. Dazu kommen weitere Faktoren wie beispielsweise die Elektromobilität, also ganz andere Lasten als heute. Das ganze System wird dadurch extrem dynamisch. Ohne Echtzeit-Daten auf Kundenseite sind die Energieflüsse von morgen nicht steuerbar. Auf Seite der Stromproduzenten brauchen wir knappheitsorientierte Anreize, damit diejenigen Kraftwerke gebaut werden, welche die Schweiz in Zukunft wirklich braucht. Die Energieversorger wiederum brauchen digitale Kompetenzen für eine Kundenbeziehung in Echtzeit, weil ihnen die Kunden sonst davonlaufen.
energate: Sie waren gut zehn Jahre lang CEO von IWB, also Teil dieser klassischen Energieversorgung.
Thiel: In meiner Zeit bei IWB, von 2008 bis 2017, galt es, Zusammenschlüsse zum Eigenverbrauch (ZEV) zu verhindern, weil sich dadurch Leute plötzlich aus dem solidarischen System ausgeklinkt hätten. Dann stimmte die Bevölkerung 2017 für die Energiestrategie. Das bedingt ein komplettes Umdenken der Rahmenbedingungen: Der Energieversorger ist nicht mehr der Gegner dieser Zusammenschlüsse, sondern muss sie befähigen.
energate: Die Lösung von Aliunid besteht aus einem Gerät, das auf dem bestehenden, elektronischen Stromzähler platziert wird und Daten sammelt. Nicht wenige Gebäude verfügen aber noch über analoge Stromzähler mit Drehscheibe. Wann wird Smart Metering flächendeckend beim Endkunden ankommen?
Thiel: Ich glaube, viel schneller, als man denkt. Man spricht in diesem Zusammenhang oft von der Marktöffnung, doch die ist meines Erachtens nicht mehr relevant. Relevant ist die Digitalisierung. Google ist für einen Energieversorger ein schwierigerer Konkurrent als das Energieversorgungsunternehmen vom Nachbardorf.
energate: Welche Rückmeldungen erhalten Sie von Energieversorgern?
Thiel: Wir platzieren unsere Produkte über die Elektrizitätswerke und sind mit ihnen im ständigen Kontakt. Gemeinsam mit 25 Elektrizitätswerken aus unserer Community haben wir 2021 unsere Echtzeitlösung lanciert. Alle kontaktierten Energieversorger sagen uns, dass wir das richtige System, die richtige Logik anwenden. Was den Energieunternehmen fehlt, ist die Zeit zur Umsetzung. Viele befinden sich im Smart-Meter-Rollout, andere sind mit Projekten für die erneuerbare Wärmeversorgung stark beschäftigt.
energate: Ist es eine Ressourcenfrage?
Thiel: Grösstenteils schon. Elektrizitätswerke sind traditionell keine Hightech-Unternehmen. Mehr als die Hälfte dieser Unternehmen in der Schweiz bestehen aus weniger als fünf Mitarbeitern. Ihre Aufgabe ist es, das Tagesgeschäft sicherzustellen. Sie sind darauf angewiesen, dass sich Neuerungen auf dem Markt etablieren und so zu ihnen gelangen. Dann gibt es grössere Anbieter, die in die Entwicklung von Neuerungen investieren. Aber auch diese Unternehmen sind mit einer Vielzahl von Projekten beschäftigt. Es ist eine grosse Herausforderung, eine Massenlösung zu entwickeln, die jedem der über 500 Elektrizitätswerke in der Schweiz gerecht wird. Sie haben unterschiedliche Situationen vor Ort, aufgrund derer sie auch unterschiedlich steuern müssen. Wir haben Kunden quer durch die Schweiz, vom Bodensee bis nach Genf. Der kleinste Energieversorger verfügt über gut 2.000 Messpunkte, der grösste über 250.000. Grundsätzlich treten wir immer über Feldtests an Kunden heran, um ihnen individuell gerecht zu werden.
energate: Wie gross ist die Gefahr, dass Aliunid zwar Pionierarbeit leistet, das Geschäftsmodell aber von Energieversorgern selbst oder Mitbewerbern umgesetzt wird?
Thiel: Diese Gefahr besteht immer. Startups bilden die Speerspitze der Innovation. Ansonsten würden wir uns nicht von einem etablierten Unternehmen abheben. Unser Geschäft besteht darin, immer ein wenig zu verraten, was wir machen, sonst versteht es niemand. Verraten wir zu viel, kopiert uns ein anderer. Wir müssen unsere Lösungen permanent weiterentwickeln.
Die Fragen stellte Yves Ballinari.