Frank: "Energiesicherheit ist keine Selbstverständlichkeit mehr"

Olten (energate) - Zum Jahresabschluss hat energate wie jedes Jahr Führungspersönlichkeiten aus der Energiebranche um ein Fazit zum Energiejahr gebeten. Heute ziehen Michael Frank (Direktor VSE), Daniela Decurtins (Direktorin VSG) und Yves Zumwald (CEO Swissgrid) ihre persönliche Jahresbilanz.
Michael Frank, Direktor Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE
In Europa herrscht Krieg. Was über Jahrzehnte nicht für möglich gehalten worden ist, ähnlich wie eine Pandemie, ist heute traurige Gewissheit. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine katapultierte Europa in eine Energiekrise, akzentuierte die bereits zuvor angespannte Preissituation an den europäischen Energiemärkten zusätzlich und legte die Versäumnisse der vergangenen Jahre schonungslos offen. Die rekordhohen Marktpreise begleiteten uns über das gesamte Jahr: Deswegen wurde der Rettungsschirm zur Stützung systemrelevanter Energieunternehmen eingeführt; deswegen wollen Unternehmen, die jahrelang von tiefen Preisen profitiert haben, zurück in die Grundversorgung; deswegen mussten viele Energieversorger für 2023 teils happige Tariferhöhungen ankündigen. Solche Turbulenzen gab es an den Strommärkten noch nie.
Der Krieg in Europa führte auch dazu, dass das Risiko einer Energie- und damit auch einer Strommangellage erstmals seit Jahrzehnten real und gross ist. Energiesicherheit ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Bund, Branche und Wirtschaft haben zahlreiche Massnahmen ergriffen, um das Risiko zu senken. In einer europaweiten Krise wie dieser gibt es aber Faktoren, die wir nicht selbst beeinflussen können. Dazu zählen das Volumen russischer Gaslieferungen nach Europa, Attacken und Cyberangriffe auf die Energieinfrastruktur, der Füllstand der inländischen Speicherseen oder die Verfügbarkeit französischer Kernkraftwerke. Es sind Faktoren, die in ungünstiger Verkettung eine Mangellage herbeiführen können - nicht nur in diesem, sondern insbesondere auch im nächsten Winter.
Der VSE und Ostral bereiten sich schon lange auf eine Strommangellage vor. Denn es ist die Branche, die die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen im Falle einer Strommangellage umsetzen müsste. Bereits im Herbst 2021 informierte Ostral alle Grossverbraucher - über 30.000 Unternehmen - über die verschiedenen Massnahmen, die im Ernstfall vorgesehen sind. Die Sensibilisierungs- und Vorbereitungsarbeiten innerhalb der Branche, aber auch mit den Kantonen, Wirtschaftsverbänden und Krisenstäben wurden 2022 stark intensiviert. Der VSE und Ostral setzen alles daran, für den Krisenfall bereit zu sein.
Wir alle, Wirtschaft und Bevölkerung, können als Verbraucherinnen und Verbraucher dazu beitragen, das Risiko einer Strommangellage diesen Winter zu reduzieren, indem wir unseren Energiekonsum senken. Jede Kilowattstunde, die wir einsparen, zählt. Indem wir Strom sparen, schonen wir die inländischen Speicherseen und die europäischen Gasspeicher. Auf diese werden wir Februar, März und April angewiesen sein. Dann sind Engpässe am wahrscheinlichsten. Wir müssen alles tun, um eine Mangellage zu verhindern.
Will man der Energiekrise etwas Positives abgewinnen, dann, dass Versorgungssicherheit endgültig ins Zentrum der politischen und öffentlichen Debatte gerückt ist und einen neuen Wert erlangt hat. Kurzfristig müssen wir das Eintreten einer Energiemangellage verhindern und uns trotzdem ernsthaft auf den Bewirtschaftungsfall vorbereiten. Alles, was wir für diesen Winter vorbereiten, wird uns im nächsten Winter, der aus heutiger Sicht die grössere Herausforderung sein wird, zugutekommen. Mittel- und langfristig müssen wir aber dafür sorgen, dass wir die Energie- und Klimaziele erreichen und nicht mehr in eine Situation geraten, wie sie heute herrscht. Diese Weichen müssen jetzt gestellt werden.
Die Strombranche bringt sich aktiv, sachlich und wissenschaftlich fundiert in die Diskussionen ein. Den Beweis hat sie 2022 mehrfach erbracht. Zunächst mit der VSE Roadmap zur Versorgungssicherheit. Diese skizziert mit über 40 Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette, wie Versorgungssicherheit in einem erneuerbaren, nachhaltigen Energiesystem funktionieren kann. Und zuletzt mit der im Dezember vorgestellten Studie "Energiezukunft 2050" - dem Branchenprojekt in enger Zusammenarbeit mit der Empa. Die "Energiezukunft 2050" zeigt verschiedene Szenarien, wie die Energieversorgung der Schweiz bis 2050 aussehen könnte. Fazit: Ohne massiv beschleunigten Zubau, massive Steigerung der Effizienz, fokussierten Um- und Ausbau der Netze sowie einem engen Energieaustausch mit Europa erreicht die Schweiz ihre Energie- und Klimaziele nicht. Der Umbau des Energiesystems ist ein Generationenprojekt, das massive Anstrengungen von Politik und Gesellschaft benötigt. Sorgen wir dafür, dass wir 2023 gemeinsam die ersten Schritte gehen und die fundamentalen Entscheide fällen, die für eine nachhaltige Energiezukunft, Versorgungssicherheit und Klimaneutralität bis 2050 zwingend nötig sind. Dem bekundeten Willen müssen jetzt Taten folgen.
Daniela Decurtins, Direktorin Verband der Schweizerischen Gasindustrie VSG
Der Bund und die Gaswirtschaft arbeiteten 2022 mit Hochdruck daran, sich auf mögliche Versorgungsengpässe vorzubereiten. Die Bedeutung einer funktionierenden und wirtschaftlichen Energieversorgung für die Prosperität der Schweizer Gesellschaft sind vielen damit erst wieder bewusst geworden. Die Arbeiten dauern an, zumal der Winter 2023/24 noch weit grössere Herausforderungen bringen wird. Zusammen mit dem Bund richtete der VSG im März die Task Force Winterversorgung ein, in der Massnahmen entwickelt wurden, um das beschaffte Gas möglichst abzusichern und Spielraum bei allfälligen Exportkürzungen zu erhalten. Innert kürzester Zeit baute der Verband zudem im Auftrag des Bundes die KIO Gas auf, analog zu Ostral im Strombereich, und band die Kundenorganisationen, Städte und Kantone gleichermassen in die Arbeiten ein. Die KIO Gas unterstützt die Werke und Kunden beim Vollzug von allfällig durch den Bund angeordnete Massnahmen. Sie untersteht der wirtschaftlichen Landesversorgung des Bundes und wird auf deren Anweisung aktiv. Die verschiedenen Arbeiten gestalteten sich enorm aufwändig, weil dafür gesetzliche Grundlagen fehlten. Die Branche verlangt seit 2015 ein Gesetz, das von der Politik bislang auf die lange Bank geschoben wurde. Nun will der Bund mit einem dringlichen Bundesgesetz Grundlagen schaffen, damit die Branche bei der Umsetzung von Massnahmen Rechtssicherheit erhält. Im Zuge der verschiedenen europäischen Massnahmen konnte auch die Abhängigkeit von russischem Gas erheblich reduziert werden. Ein kritischer Punkt bleibt, dass das Gas in einer Mangellage auch tatsächlich in die Schweiz gelangt. Die zwischenstaatlichen Gespräche gestalten sich schwierig, die Bemühungen sind aber weiter hochzuhalten.
Angesichts der aktuellen Krise ist es zentral, den Umbau der Energieversorgung zu Netto-Null bis 2050 nicht aus den Augen zu verlieren und insbesondere den Transformationspfad dorthin auch angesichts der aktuellen Erfahrungen zu reflektieren und zu diskutieren. Dabei müssen die Weichen richtig gestellt werden. Gerade auch unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit wird immer deutlicher, dass ein gut funktionierendes Energiesystem auf einem breiten Mix von Energieträgern und verschiedenen Infrastrukturen basieren muss. Eine einseitige Elektrifizierung der Energieversorgung ist nicht zielführend; sie macht die Schweiz von einem einzelnen Energieträger abhängig und führt zu überhöhten volkswirtschaftlichen Kosten. Die Schweizer Gaswirtschaft arbeitet auf das Netto-Null-Ziel bis 2050 hin, in dem Erdgas sukzessiv durch erneuerbare und klimaneutrale Gase ersetzt werden sollen, die neben Biogas auch synthetisches Methan und grünen Wasserstoff umfassen. Noch lassen die Rahmenbedingungen zu wünschen übrig. Die EU und ihre Mitgliedsländer haben etwa das Potenzial von Wasserstoff längst erkannt und setzen entsprechende Strategien um. Der Bund agiert hier bislang immer noch zögerlich. Städte und Gemeinden, die im Rahmen ihrer Energieplanungen sorgsam prüfen, wo und wie ihre Gasnetze in Zukunft genutzt werden können, sind für die Energiezukunft besser gerüstet, gerade auch unter dem Aspekt der Versorgungssicherheit.
Yves Zumwald, CEO Swissgrid
Für den Energiesektor war 2022 ein turbulentes Jahr, geprägt von explodierenden Preisen an den Energiemärkten und einer angespannten Versorgungslage im Winter 2022/2023. Trotz anspruchsvollen Rahmenbedingungen stellte Swissgrid eine sehr hohe Verfügbarkeit des Übertragungsnetzes sicher. Die geringere Verfügbarkeit der Kernkraftwerke in Frankreich und die aussergewöhnlichen Marktpreise führten zeitweise zu hohen Lastflüssen auf Schweizer Netzelementen. Insgesamt musste Swissgrid vermehrt in den Netzbetrieb eingreifen.
Die Regelenergieplattformen Mari und Picasso sind in Betrieb, aufgrund des fehlenden Stromabkommens mit der EU jedoch nicht an die europäischen Plattformen angeschlossen. Die Teilnahme an der Tertiärregelenergieplattform Terre ist gefährdet und Swissgrid ist bei weiteren Koordinationsprozessen, beispielsweise zur Kapazitätsberechnung, ausgeschlossen. Die Isolation von Swissgrid erhöht das Risiko für ungeplante Stromflüsse im Schweizer Netz und führt zu einer Zunahme der Eingriffe in den laufenden Netzbetrieb zur Stabilisierung des Systems. Deshalb engagiert sich Swissgrid mit allen Mitteln, um auf europäischer Ebene weiterhin aktiv mitwirken zu können. So wurden privatrechtliche Verträge abgeschlossen, diese können aber ein zwischenstaatliches Abkommen nicht ersetzen.
Aufgrund der sich abzeichnenden angespannten Wintersituation hat Swissgrid schon frühzeitig Massnahmen getroffen und zur Absicherung für den Winter unter anderem vorausschauend Energie beschafft. Zudem hat der Bundesrat zur kurzfristigen Erhöhung der Versorgungssicherheit verschiedene Massnahmen erlassen und Swissgrid neue Rollen und Aufgaben übertragen: von der operativen Abwicklung der Wasserkraftreserve über eine temporäre Spannungserhöhung für die beiden Übertragungsleitungen Bickigen-Chippis sowie Bassecourt-Mühleberg von 220 auf 380 kV bis zum Anschluss des Reservekraftwerks in Birr. Diese Massnahmen, deren Kosten alle Endverbraucherinnen und Endverbraucher über die Tarife bezahlen werden, sind wichtig und sinnvoll, um das Risiko einer Strommangellage zu reduzieren.
Im "Strategischen Netz 2025" hat Swissgrid wichtige Meilensteine erreicht. Die Höchstspannungsleitung Chamoson-Chippis im Wallis wurde nach rekordverdächtigen 36 Jahren Projektdauer in Betrieb genommen. Und im Kanton Graubünden fliesst Strom über die ausgebaute Leitung zwischen Pradella und La Punt. Das Übertragungsnetz ist der Schlüssel zu einer nachhaltigen Energiezukunft. Es muss zuverlässig und leistungsstark sein, um seine Rolle als wichtiger Pfeiler der Energiestrategie 2050 des Bundes zu erfüllen. /mg
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